Lehrplanforschung

Curriculare Planungen

Präzise ist nicht auch schon verständlich!

Posted on | November 27, 2013 |

Da hat man sich nun Mühe gegeben, die Anforderungen an die Schülerinnen und Schüler im Lehrplan endlich mal präzise zu beschreiben und über tausend Kompetenzen und Kompetenzstufen formuliert. Und was ist der Dank dafür? Nun wird ‚genörgelt‘ und kritisiert, der Lehrplan sei nicht verständlich, für Eltern nicht lesbar, auch nicht für Schülerinnen und Schüler und erst noch zu viel. Man wisse nun trotz des detaillierten Kompetenzaufbaus in den einzelnen Kompetenzbereichen doch nicht recht, was am Ende eines Lernzyklus genau zu wissen sei und dies trotz professionell und farbig gestalteter Kennzeichnungen von Mindestanforderungen samt flexiblen Übergängen. So ein Tenor aus den bisherigen Ergebnissen der Konsultation zum Lehrplan 21.  

Nun, es kam, wie es kommen musste. Das in emsig stiller Arbeit entwickelte und durch-designte Werk erfährt mehr Skepsis als Bewunderung. Nicht geholfen hat der Einsatz von Kommunikations- und PR-Spezialisten, nicht die obrigkeitliche Versicherung, im Grunde bleibe im Unterricht doch alles beim Alten, es gehe doch bloss um den epochalen Schritt zu einem sprachregionalen überkantonalen Lehrplan und das sei doch nun gelungen.

Es ist eines der vielen Missverständnisse, die das grosse Projekt Lehrplan 21 von Anfang an begleitet und geprägt hat, dass Lehrpläne für die obligatorische Volksschule primär fachwissenschaftliche Texte zu sein hätten und nicht verwaltungsrechtliche und politische Dokumente. Alle diese Ansprüche in einem Text zu vereinbaren, ist eine hoch anspruchsvolle Herausforderung. Im Lehrplan 21 ist sie nicht gelungen. Das hängt in erster Linie damit zusammen, dass die Autorinnen und Autoren Präzision mit Verständlichkeit in eins gesetzt oder verwechselt haben.

Das Konzept der Kompetenzorientierung ist zwar einerseits äussert populär und plausibel, im ausserschulischen Bereich und im Wirtschaftsleben vor allem, andererseits aber theoretisch doch ziemlich unausgereift und fragil. Zwar scheint die Intention des Begriffes klar zu sein, nicht hingegen seine Extension. Denn was Kompetenz ausmacht, wo sie beginnt, ab wann es sinnvoll ist, jemanden kompetent in einer Sache zu nennen, ist selbst in beruflichen und lebenspraktischen Zusammenhängen nicht einfach zu bestimmen, umso schwieriger ist das für die elementare allgemeinbildende Schule.  Denn was soll man hier Kompetenz nennen, schon das Binden der eigenen Schuhe, das Beherrschen des Einmaleins samt Grundrechnungsarten oder erst die Buchführung des eigenen Taschengeldes und die Kontrolle des Einkaufs im Supermarkt oder einfach alle gleichermassen? Aber wie kann man das denn lernen? Was davon kann man auch lehren, und wie? Was hilft zu solcher Kompetenz, wenn man es in der Schule durchgenommen hat? Und sind die Kinder dann schon kompetent, wenn sie es durchgearbeitet und geübt haben? All das sind weithin offene Fragen.

Dass die mit der Kompetenzorientierung erreichte Präzision in der Formulierung der Leistungserwartungen an die Schülerinnen und Schüler auf Kosten der Inhalts- und Reflexionsorientierung geht, ist vielfach bemerkt und moniert worden. Sie geht auch – und dies haben die Autorinnen und Autoren übersehen – auf Kosten der Klarheit und Verständlichkeit. Wenn die Mindestanforderung für den zweiten Zyklus im Kompetenzbereich „Stoffe, Energie und Bewegung beschreiben und untersuchen“ im Lernbereich Natur-Mensch-Gesellschaft der Kompetenz „Die Schülerinnen und Schüler können Erfahrungen mit Kräften und Bewegungen beschreiben und einordnen“ lautet: „Die Schülerinnen und Schüler können Geschwindigkeiten vergleichen und Geschwindigkeitsänderungen beschreiben“, so ist das zweifellos intentional präzise, aber extensional ziemlich leer. Auch fragt man sich, worin denn die Abstufung in den drei Versionen oder Kompetenzstufen besteht. Auf der obersten Stufe ist nur von ‚Bewegungen die Rede, auf der Folgenden von ‚Erfahrungen mit Bewegungen und auf der untersten dritten Stufe von ‚Geschwindigkeiten und Geschwindigkeitsänderungen‘. Offen bleibt auch hier, in welchen Bereichen und an welchen Beispielen diese Kompetenz denn erarbeitet werden soll, im Bereich der Technik oder am Beispiel menschlicher oder tierischer Fortbewegungen oder im Bereich der vollelastischen physikalischen Körper oder im Bereich von Naturphänomenen wie Wind, Wasser, Lawinen etc. Nun kann man sagen, dies zu entscheiden, sei eben Sache der Lehrpersonen und hänge dann ab von deren richtiger Einschätzung von Fassungsvermögen und Interessen ihrer Schülerinnen und Schüler und auch von  eigenen Vorlieben und eigenem Kenntnisstand. Allerdings stellt sich natürlich sofort die Frage, ist diese Kompetenz wirklich themen- und bereichsunabhängig. Lernen die Kinder wirklich dasselbe, wenn Sie die Bewegungen von Hunden, Gazellen, Pferden und Schildkröten oder Schlangen vergleichen und beschreiben und wenn sie das bei Fahrrädern, Autos, Eisenbahnen und Flugzeugen tun? Nun kann man sagen, das eben sei die Kompetenz, die hier gefordert ist, dass sie das bereichsunabhängig könnten – eine  nicht ganz unproblematische Annahme allerdings. Wenn das so gemeint ist, müssen sie das dann auch in allen möglichen Bereichen in der Schule behandelt und geübt haben? Müssen sie dann vielleicht nicht bloss das Gemeinsame dieser Bewegungsfelder erkennen, sondern auch die Unterschiede, nicht bloss die Bewegung von Katzen mit Mäusen vergleichen und beschreiben, sondern auch die von Blitzen mit Gewehrkugeln und diese mit denen von Langläufern und Skifahrern? Man sieht schon an diesen Fragen, und sie liessen sich beliebig erweitern, wie viele Voraussetzungen erforderlich sind, allein um sie zu stellen und damit das mit der Mindestanforderung Gemeinte wirklich zu verstehen. Was die Schülerinnen und Schüler am Ende des zweiten Zyklus, das heisst am Ende des sechsten Schuljahres, mindestens gelernt haben müssen, bleibt im Lehrplan zumindest thematisch ziemlich unbestimmt. Zu einer Verständigung innerhalb von Fachleuten mag das ja genügen, aber gewiss nicht zu einer Verständigung zwischen Schule und Elternhaus oder auch zwischen Schule und Berufswelt.

Kompetenzformulierungen und ihre differenzierenden Präzisierungen sind keine pädagogisch praktischen oder didaktischen Erfordernisse oder gar Hilfen, sie sind dem Willen zur Vergleichbarkeit der Leistungsanforderung zur Überprüfbarkeit und Messbarkeit der Leistungsergebnisse geschuldet. Deshalb werden sie von interessierter Seite begrüsst. Die Zustimmung, welche die Kompetenzorientierung vielfach auch von Lehrerseite findet, wird gewiss deutlich schwinden, wenn diese Zweckbestimmung dann in externen Leistungsmessungen und Leistungsvergleichen umgesetzt werden wird, wie das in den andern Ländern zu beobachten ist.

Zur schulpolitischen Verständigung taugt ein solcher Lehrplan nicht. Er ist zu differenziert und zugleich zu unklar. Er ist ein schöner Beleg dafür, dass das was hier in einer Textsorte Lehrplan noch verbunden wurde, in Zukunft in zwei Dokumente aufzuteilen sein wird, einen schulpolitischen Bildungs- oder Lehrplan und einen professionsbestimmten Unterrichtsplan.

Aarau, 25.11.2013  Rudolf Künzli

Postscriptum:
„Sir Michael Atiyah ist einer der bedeutensten Mathematiker der Gegenwart“ so die NZZ am Sonntag vom 1.12. 2013 und zitiert ihn dann mit den Worten: „Manchmal müsse man die Präzsion senken, wenn dadurch ein Sacherverhalt besser erklärt werden könne, sagt Atiyah“.
Genauigkeit sei das `Hindernis Nummer 1 der Erkenntnis´, so las ich es kürzlich. Karl Schmid, der schweizer Germanist und Philologe soll es gesagt haben mit Blick auf die Akribie der philologischen Texteditionen. (Schweizer Monat Sonderthema 11. Juli 2013, S. 4)
RK

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