Lehrplanforschung

Curriculare Planungen

Geborgte Bedeutsamkeit

Posted on | September 15, 2013 |

Das Wort ‚Kompetenz‘ hat zurzeit einen guten Klang in unserer Leistungs- und Wettbewerbsgesellschaft. Alle möglichen Dienstleistungen werden neuerdings in sogenannten Kompetenzzentren angeboten. Da möchten Schulpolitik, Bildungsadministration und -forschung nicht hintanstehen. Indessen, was wir im gelebten Leben und im Beruf Kompetenzen und kompetent nennen, ist qualitativ von anderer Art, als das was in Schule und Lehrplänen neuerdings Kompetenzen genannt wird. Kompetenz sprechen wir dort jemandem zu, der nicht nur etwas kann und etwas von der Sache versteht, sondern jemandem, der dieses sein Wissen und Können in vielfältigen Situationen unter Beweis gestellt hat. Zu Kompetenz in diesem Sinne gehört zwingend Erfahrung, Erfahrung in der Beurteilung einer Anwendungssituation, in der Anwendung und Ausübung des Wissens und Könnens auch in ganz unerwarteten und unerwartbaren Situationen. Solche Erfahrung kann man in der Schule kaum machen. Das ist, wie wir sehen werden, auch nicht ihre Aufgabe. Das für jede Kompetenz erforderliche Wissen und Können schon Kompetenz zu nennen, ist zumindest voreilig. Schulisch erwerbbares Wissen und Können borgt sich so nur eine Bedeutsamkeit, die seinem späteren Nutzen vielleicht zukommt, ihm aber eigentlich noch gar nicht zusteht. Schulisches Wissen und Können ist im Hinblick auf nützliche Kompetenzen immer erst propädeutisch.

Wie grossmäulig die Bezeichnung Kompetenzen für das, was da z.B. im Lehrplan 21 als Lernziele des Könnens und Wissens aufgelistet wird, ist, kann man auch leicht daran erkennen, dass wir von namhaften Vertretern dieses Lehrplanes nun gesagt bekommen, dass sich mit diesem kompetenzorientierten Lehrplan so viel eigentlich gar nicht ändere – ausser eben die Bezeichnung Kompetenzen, möchte man da hinzufügen.

Nun, das ist auch wieder nicht ganz wahr. Was im Lehrplan 21 als Kompetenzen auf- und ausgegeben wird, sind grossenteils durchaus sinnvolle Grobziele des schulischen Lernens. Sie fassen zusammen, was durch eine ganze Anzahl einzelner nötiger Lernschritte an Können erworben werden soll und geben diesen eine orientierende Richtung. Welches Wissen für dieses Können nötig ist, bleibt bei diesen Lernzielvorgaben zumeist offen und unbestimmt. Das hat durchaus Vorteile. Kein Lehrer, keine Lehrerin kann dann auf den Gedanken kommen, ihre Schülerinnen und Schüler hätten diese Ziele erreicht, wenn sie ein paar Wissensfragen richtig beantworten können, oder er oder sie hätte seine Lehr- aufgabe erfüllt, wenn ihnen ein paar richtige Antworten auf ein paar richtige Fragen eingetrichtert worden sind. Angesichts der allgemeinden Begeisterung über solche ‚Vorzüge‘ des neuen Lehrplans 21 fragt man sich freilich schon, wo es denn noch solche Lehrer und Lehrerinnen an unseren Schulen gibt, die ihre Schüler und Schülerinnen die Nebenflüsse zur Donau,  die Länge der Alpenpässe, die Schlachten der Eidgenossen oder die Bezeichnung und Abfolge der Epochen der Erdgeschichte von Paleozän, Pleistozän bis zum Holozän, von Kreide, Jura etc. oder die Namen der Bundesräte memorieren lassen.  Wer will sich denn noch solch trägen Wissens über höchst prekäre Epochen bezichtigen lassen. Das muss oder darf  nun die Lehrerin, der Lehrer selber entscheiden, oder zur Not auch die Schülerin oder der Schüler, was dem angestrebten Können an Wissen dienlich und nützlich ist.

Von geradezu übermütigem Planbarkeitsoptimismus und ebensolcher Begeisterung der Lehrplankonstrukteure zeugt dann, wie die erwünschten Kompetenzen über eine Stufen- leiter einzelner Lernschritte gleichsam im Takt sich aufbauend vorgestellt werden, wie sie ein Netzwerk knüpfen aus Teil- und Subkompetenzen, an dessen Gängelband ein sicherer Aufstieg zu immer höheren Graden der Könnerschaft sich fast wie von selbst einstellt. Nicht, dass solche Vorstellungen vom Aufbau und der Abfolge von Lernschritten nicht zu den Grundgedanken und elementaren Aufgaben der Lehrplanung gehörten und immer schon gehört haben, vom Einfachen zum Komplexen, vom Nahen zum Fernen, von der Sequenzierung des Lernstoffes oder dem Spiralcurriculum, aber die hier ausgelegten Kompetenzstufenmodelle übertreffen solche altmodischen Strukturen an Differenziertheit und Präzision bei Weitem. Ob sie diese auch in ihren Grundlagen und Grundannahmen übertreffen, ist eher fraglich. Der Kulturstufenlehrplan der Herbartianer mit seiner Grundannahme eines Parallelismus von Ontogenese und Phylogenese war wissen- schaftlich kaum weniger gesichert als das lernpsychologische Konzept der Kompetenzen mit seinen Stufenleitern. Es ist eine von wissenschaftlichen Zukunftsaussichten geborgte Gewissheit, auf die es glaubt setzen zu können und zu dürfen.

Nun könnte man es zwar bei dieser etwas grosssprecherischen und übertreibenden Bezeichnung schulischen Wissens und Könnens und dem leicht hybriden Planungs- optimismus seiner Kompetenzmodelle bewenden lassen, klingeln gehört schliesslich auch hier zum Geschäft, wenn es  nicht gerade verdeckte, welche Kompetenz denn Schule wirklich zu vermitteln die Aufgabe und die Möglichkeit hat: Lernkompetenz nämlich.

Erfahrung machen und damit auch wirklich Kompetenzen erwerben kann man in der Schule nämlich beim Lernen. Lernerfahrungen beim Üben von Fertigkeiten, beim Erwerb von Wissen und Können, beim Bewältigen von Problemen, das sind Erfahrungen, die man in der Schule machen kann, und nicht bloss beiläufig. Es sind die Erfahrungen, die hier gemacht werden sollen. Wenn in der Volksschule in irgendeinem Bereich sinnvoller Weise von Kompetenzen und Kompetenzerwerb die Rede sein kann, dann beim Lernen. Solche Kultivierung der Lernfähigkeit der Menschen ist der primäre Zweck der Institution Schule. Im ‚Haus des Lernens‘, wie es auch schon genannt wurde, geht es zuerst und zuletzt um nichts anderes als um den Erwerb von Lernkompetenzen. Freilich kann man das Lernen nur beim Lernen von Etwas,  von konkreten Kenntnissen und  Fertigkeiten erwerben, nicht ganz formal an und für sich. Dass man beim Lernen des Lernens auch noch konkrete Kenntnisse und nützliche Fertigkeiten und Fähigkeit erwirbt, ist ein Umstand, den wir uns gerne zu Nutzen machen wollen. Nur sollte er nicht die Prioritäten verdrehen. Der kompetenzorientierte Lehrplan 21 aber verleitet genau dazu, er verleitet dazu, den Erwerb von bereichsspezifischen, durchaus nützlichen und aktuell erforder- lichen Kenntnissen und Fertigkeiten für den Zweck der Schule zu halten und zu erklären. ‚An Kompetenzen führt kein Weg vorbei‘ (An Kompetenzen führt kein Weg vorbei), wie Urs Moser in der NZZ dekretierte, er hätte Recht, wenn er damit die Lernkompetenzen meinte, weil er das aber offenkundig nicht so meint, hat Hermann Forneck Recht, wenn er zum Lehrplan 21 feststellt, ‚nicht auf das 21. Jahrhundert ausgerichtet‘. (Nicht auf das 21. Jahrhundert ausgerichtet). Freilich scheint auch er zu meinen, dass die Qualität eines Lehrplanes von der ‚Modernität und Aktualität‘ der Lernbereiche abhänge, welche er vorgibt.

Zu kurz gesprungen, kann ich da nur sagen. Die Qualität eines Lehrplanes hängt nicht von der Aktualität und Modernität seiner Lernbereiche ab, fast möchte ich sagen im Gegenteil, sie hängt davon ab, wie sehr seine Ziele und Vorgaben den Zweck der Schule befördern, die Kultivierung der Lernfähigkeit.

Aarau, Mitte September 2013
Rudolf Künzli

Leave a Reply

You must be logged in to post a comment.