Lehrplanforschung

Curriculare Planungen

Statt Schulfächer gibt es nun Fachbereiche

Posted on | August 14, 2013 |

Die Fachbereiche sind gesellschaftlich bestimmt. Mit dieser prägnanten Aussage begründet oder besser rechtfertigt der Lehrplan 21 die fachliche Gliederung seiner  Kompetenzanforderungen an die Schülerinnen und Schüler:

„Im Lehrplan 21 ist die schulische Grundbildung in sechs Fachbereiche gegliedert. Diese sind gesellschaftlich bestimmt und orientieren sich an kulturellen und schulischen Traditionen und Normen.“  (Einleitung S. 2)

Nun könnte man sich damit zufrieden geben, es ist ja nicht falsch, was hier geschrieben steht. Aber ich will hier genauer prüfen, was es damit auf sich hat.

Dem Lehrplanforscher fällt nicht die Aussage für sich auf, wohl aber die Dürftigkeit dieser Begründung  und dass es mit dem Thema damit sein Bewenden haben soll.  Nachfragen sollen sich offenbar erübrigen. Indessen, sowohl theoretisch wie schulpolitisch gibt es in der Lehrplangeschichte kaum ein Thema, das zu mehr Diskussionen und Auseinandersetzungen Anlass gegeben hätte als die Gliederung der Lernfelder.  Kurz, die Gliederung der schulischen Grundbildung in die sechs Fachbereiche ‚Sprachen‘, ‚Mathematik‘, ‚Natur, Mensch, Gesellschaft‘, ‚Gestalten‘, ‚Musik‘, ‚Bewegung und Sport‘ ist alles andere als selbstverständlich.

Die gewählte Gliederung ist inkohärent und widersprüchlich

Wie zum Beleg dafür folgen denn auch im Lehrplan 21 einige weitere Bereiche ‚Berufliche Orientierung‘, ICT und Medien‘, und ‚Nachhaltige Entwicklung‘, welche aber nicht als Fachbereiche, sondern bloss als ‚fachübergreifende Themen‘ eingestuft sind. Warum eigentlich, so muss man sich fragen, ist etwa ‚ICT und Medien‘  kein Fachbereich, sondern bloss ein ‚fachübergreifendes Thema‘? Und warum ist ‚Natur, Mensch und Gesellschaft‘ ein Fachbereich, wo es sich doch um eine fächerübergreifende  Zusammenfassung ganz unterschiedlicher Themen handelt, ja ganzer ehemals als Schulfächer eingestufter Fächer, wie z.B. Geschichte, Geografie, Menschen- und Naturkunde?  Was, so fragt man sich, unterscheidet diese Zusammenfassung strukturell von der Zusammenfassung ‚fächerübergreifender  Themen unter der Leitidee Nachhaltige Entwicklung‘, in der ebenfalls ganze Fachbereiche wie ‚Politik‘, ‚Natürliche Umwelt und Ressourcen‘ (Ökologie?) oder ‚Wirtschaft und Konsum‘ untergebracht werden? Unter dieser Rubrik sind all die aktuellen und trendigen Themen des Bildungsdiskurses zusammengefasst. Hier macht sich dann besonders nachteilig bemerkbar, dass der Lehrplan 21 keine Angaben macht zu den Zeitressourcen. Wie soll man so diesen thematisch umgreifenden Erziehungsauftrag verstehen? Handelt es sich hier bloss um Lehrplanlyrik? Wenn nicht, wie soll damit der gesellschaftliche Auftrag an die Schule vor den täglich wachsenden Ansprüchen begrenzt werden, ein erklärtes Ziel des Lehrplans 21?  Dass es sich eher um einen Erziehungsauftrag als einen Bildungsauftrag handelt, damit hängt wohl auch zusammen, dass – anders  als im Bereich ‚Berufliche Orientierung‘ und im Bereich ‚ICT und Medien‘ – keine spezifischen Kompetenzziele ausgewiesen werden.  Die Umsetzung dieser curricularen Vorgabe wird hier über ‚didaktische Prinzipien‘ empfohlen. Dabei gäbe es auch für diese Themen hinreichend Substanz, um dafür Kompetenzziele auszuweisen. Schliesslich sind auch sie an fast jeder Universität mit Fachlehrstühlen vertreten, wenn einige auch erst neuerdings. Und warum gelten die Prinzipien ‚Zukunftsorientierung‘, ‚Vernetztes Denken‘, ‚Partizipationsorientierung‘  offenbar nur für diese Themen? Was ist, so kann man sich fragen, an Themen wie ‚Gender‘, Gesundheit‘ oder ‚Politik‘ fächerübergreifender als an ‚Sprachen‘ zum Beispiel? Oder ist das Potential von  ,Musik’ oder das von ‚Gestalten‘, verschiedene Lebensbereiche zu vernetzen, etwa geringer zu veranschlagen als, sagen wir  das von ‚Wirtschaft‘?

Was diese und beliebig erweiterbare Fragen deutlich machen sollen, ist die Fragwürdigkeit dieser Fachbereichsgliederung. Zwar gilt das nicht nur für die des Lehrplanes 21, auch manche älteren und neueren Gliederungen sind es nicht minder. Aber man wüsste doch gerne, was sich die Lehrplanautoren und –autorinnen bei und zu dieser Lehrplanstruktur  gedacht haben, was diese für sie pädagogisch und didaktisch bedeutet. Auch auf welchen ‚Normen‘ und welche Art Normen denn die Fachbereiche gegründet sind. Und, na ja, der Verweis auf schulische Traditionen ist sicher nicht falsch,  allein mag er aber kaum zu befriedigen. Interessant ist der Hinweis, dass die Fachbereiche „gesellschaftlich gegeben sind“. Was meint dieser Hinweis genauer? Man könnte spontan vermuten, damit sei die Gliederung der Grundbildung benannt, wie sie das HarmoS – Konkordat in Art. 3 Abs. 2 vorgibt. Aber von den wissenssoziologisch, bildungshistorisch und erkenntnistheoretisch gut begründeten und begründbaren fünf Bereichen, die dort als Elemente der schulischen Grundbildung genannt werden[1],  weicht der Lehrplan 21 deutlich ab. Warum und mit welchen Gründen?  Sollte das nicht wissen, wer dieser Grundstruktur der schulischen Lehrordnung mit Vernunft und Einsicht zustimmen oder später im Unterricht vertreten soll? Wissen es die Lehrplanautoren und –autorinnen selber? Ich erlaube mir hier leise Zweifel daran. Wissen sie, dass diese Lehrordnung der Fachbereiche nicht unwesentlich von der des PER abweicht, des sprachregionalen Lehrplans der Romandie? Was bedeutet es ihnen, dass sie auch von der  Deutschlands und Österreichs abweicht, zwei Länder, die immerhin zur selben Sprach- und Kulturregion wie die deutschsprachige Schweiz gehören? Sind diese Abweichungen selbstbewusst und begründet in Kauf genommen oder haben sie sich einfach so ergeben?  Sind sich die Lehrplanverantwortlichen der Tragweite dieser Setzungen bewusst?

Zwischen Sammlungscode und Integrationscode

An der unterschiedlichen Behandlung der fächerübergreifenden Themen und den Inkohärenzen bei der Bestimmung der Fachbereiche zeigt sich eine elementare curriculare Unsicherheit und Unentschiedenheit im Lehrplan 21. In den beiden Lehrplanteilen ‚Überblick und Anleitung‘ (10 Seiten) und ‚Einleitung‘ (15 Seiten) kommen die Wörter fächerübergreifend und überfachlich insgesamt 52mal vor,  die Wörter fachlich und innerfachlich und verwandte ebenfalls 52mal. Man darf, ja man muss dies wohl als Botschaft interpretieren, als einen gesetzten Willen zu dem, was der englische Sprachsoziologe und Curriculumforscher Basil Bernstein den Integrationscode genannt hat. Er funktioniert nach dem Muster der allseitigen Vernetzung und Verknüpfung. Ihm steht der Sammlungscode gegenüber, der umgekehrt nach dem Muster der  Abgrenzung und Unterscheidung funktioniert. Im Curriculum zeigen sich die beiden Formen in der Abgrenzung der Fächer und Fachbereiche gegeneinander bzw. ihrer fächerverbindenden und übergreifenden Gruppierung, ihrer ‚Klassifikation‘,  und sie zeigen sich in den Spielräumen, die Lehrerinnen und Lehrer bei der Umsetzung haben, in der ‚Rahmung‘ von Lernen und Unterricht. Der Fachbereich ‚Natur Mensch Gesellschaft‘ ist ein Beispiel für eine eher integrative, also fächerverbindende und ‚schwache Klassifikation‘, der Lernbereich der fächerübergreifenden Themen unter der Leitidee Nachhaltige Entwicklung formuliert in seinen didaktischen Prinzipien zusätzlich eine eher ‚offene Rahmung‘, also hohe Spielräume, die Lehrerinnen und Lehrer ebenso wie Schülerinnen und Schüler in Themenwahl und Bearbeitung bei der Umsetzung haben.

Die Lehrplanstruktur des Lehrplans 21 trägt so alle Züge einer curricularen Mischform im Sinne Bernsteins. Wenn man von seiner Grundannahme ausgeht, dass sich im curricularen Code die Arbeitsteilung und die Schichtung einer Gesellschaft spiegelt, erschliesst und vorbereitend durchsetzt, so bekommt die zitierte Aussage, dass die Fachbereiche gesellschaftlich bestimmt seien, nochmals einen andern Sinn. Der Lehrplan 21 spiegelte dann in seiner curricularen Unentschiedenheit die gegenwärtige soziale, politische und organisatorische Gemengelage und hier insbesondere die zentralen Auseinandersetzungen um Fragen der Integration, der gesellschaftlichen Öffnung und der Individualisierung.  Man kann darin die gesellschaftspolitische Brisanz der Lehrplanstruktur des Lehrplans 21 erkennen.

Ein ‚Gerüst‘ schulischen Lernens und der Institution Schule

Was im Lehrplan 21 als Gliederung der Fachbereiche schulischer Grundbildung dargestellt  wird, hat man früher auch den Kanon der Schulfächer genannt. Man hat in diesem Schulfächerkanon auch das Grundgerüst  schulischen Lehrens und Lernens erkannt und in mancher Hinsicht auch der Institution Schule selber. Es ist wohl kein Zufall, dass das Wort ‚Schulfach‘ im Lehrplan 21 nicht mehr vorkommt. Nicht verwunderlich ist, dass auch ‚Kanon‘ nicht zum Vokabular des Lehrplan 21 gehört. An der organisatorisch und professionspolitisch folgenreichen Bedeutung der Gliederung ändert es allerdings nichts, ob sie als eine der Schulfächer daherkommt oder als eine der Fachbereiche. Das leuchtet ja sofort ein, wenn man an die Lehrmittel denkt, die  nun auf Fächer oder Fachbereiche ausgerichtet werden. Oder man denke an die Lehrer- und Lehrerinnenausbildung, die für eine begrenzte Zahl von Fächern oder Fachbereichen ausgebildet werden, was ihren Einsatz in den Schulen mehr oder weniger vorwegbestimmen. Auch die Schulhäuser sind räumlich in  Fach- oder Fachbereichsräume mit entsprechender Einrichtung unterteilt. Viele Schulen kennen Fachschaften als Gruppierung  der Lehrpersonen nach Fach oder Fachbereichsgruppen. Ihnen sind vielfach eigene organisatorische Kompetenzen und Verantwortungen zugewiesen. So ist die Gliederung der schulischen Grundbildung immer auch eine Gliederung der Schulstrukturen, ihres Personals und ihrer Arbeitsorganisation.  In der Gliederung  der Lernbereiche ist die Gliederung der Arbeitsteilung in der Institution Schule präformiert. Ähnliches liesse sich hier auch für die Schulverwaltungen sagen.  Es ist nicht ganz klar, welche Konsequenzen die Gliederung der Fachbereiche im Lehrplan 21 in dieser Hinsicht hat und haben wird. Man denke hier etwa an die Ausbildungsstrukturen der pädagogischen Hochschulen, den Amtsauftrag samt Fächerumfang und die Lehrerinnen- und Lehrerfortbildung. Eine spannende Frage bei der Umsetzung wird auch sein, ob und inwieweit die Fachdidaktiken sich gemäss der neuen Lehrplanstruktur reorganisieren werden oder reorganisieren müssen.  Ich habe Zweifel, ob und wie weit diese Implikationen der Lehrplanstruktur schon bedacht und geklärt sind.

Auch stellen sich hier Fragen nach dem sozialen Status der einzelnen Fachbereiche und dem Status des sie betreuenden Personals.  Es ist zu vermuten, dass die Fachbereiche gegenüber den fächerübergreifenden Themen schon allein wegen ihrer subsidiären, in den Fachbereichen zu bearbeitenden Kompetenzen einen niedrigeren Status und einen geringeren Verbindlichkeitswert haben werden. Solche Einschätzungen aber sind nur als Tendenzen zu verstehen. Sie können sich in der einen oder anderen Richtung leicht verschieben, je nach ihrer Ausstattung mit Ressourcen an Zeit, Infrastruktur und Personal. Auch gilt in der Schule wie in der Arbeitswelt, dass die Folgen den Wert eines Bereichs bestimmen: die Folgen hinsichtlich Karriere, Einkommen und gesellschaftlicher Aufmerksamkeit. Wer entscheidet, wann darüber? So drückt sich dieser Lehrplan 21 vor den erforderlichen politischen Rahmensetzungen zum gesellschaftlichen Auftrag an die Schule. Aber dazu habe ich in meinem letzten Blogbeitrag schon etwas gesagt.

Aarau, im August 2013 RK



[1] Genannt sind dort a) Sprachen, b) Mathematik und Naturwissenschaften, c) Sozial- und Geisteswissenschaften, d) Musik, Kunst und Gestaltung, e) Bewegung und Gesundheit. Lehrplanhistorisch entspricht diese Gliederung einem geradezu klassisch zu nennenden Fächerkanon. Um Missverständnisse zu vermeiden, nicht die Bezeichnungen sind damit gemeint, sondern die sachliche Gliederung.

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