Lehrplanforschung

Curriculare Planungen

Der Lehrplan 21: Ein Lehrplan der neuen Generation, aber auch ein zukunftsfähiges Modell zur Klärung des gesellschaftlichen Auftrags der Schule?

Posted on | Juli 9, 2013 |

Der Lehrplan 21 (LP 21) liegt in einer ersten öffentlichen Fassung vor. Er ist in Form und Gestalt ein schönes, in seinem Gehalt und seiner Differenzierung ein beeindruckendes Werk geworden: keine Frage! Und es wird Massstäbe setzen. Welche es sind, und ob es die richtigen sind, werden wir auf dieser Webseite in verschiedenen Beiträgen diskutieren.

Der LP 21 ist zwar nicht der erste regionale Lehrplan, der die föderalen Grenzen kantonaler Schulhoheit überschreitet. In der Romandie ist der interkantonale Lehrplan schon seit einigen Jahren Realität. Und auch in der Deutschschweiz haben die Kantone der IEDK seit vielen Jahren Lehrpläne gemeinsam entwickelt.  Wenn dem LP 21 trotzdem etwas Historisches eignet, dann weil sich solche Kooperation neuerdings als Schritt zur Umsetzung von HarmoS darstellen kann und nicht mehr bloss als ökonomisch gebotene Zusammenarbeit. Dass damit der kantonale Bildungsföderalismus nicht in Frage gestellt wird, ist man allenthalben politisch bemüht zu betonen. Und in der Tat, der LP 21 versteht sich denn auch nicht schon als interkantonal geltendes Dokument, das so in den Schulen der Deutschschweizer Kantone eingeführt wird. Die D-EDK belässt es, ja muss es staatsrechtlich bei einer künftigen ´Freigabe` zu Händen der kantonalen Bildungsexekutiven belassen. Was die Kantone dann damit machen, liegt in deren Kompetenz, freilich  ganz frei sind sie dabei nicht mehr, seit es den neuen Bildungsartikel mit der Koordinationspflicht in der Bundesverfassung gibt. Es gäbe aber noch genügend kantonalen Spielraum, wurde bei der Vorstellung vorletzte Woche betont (RR Hürzeler AG), aber auch dass man dann schon dafür sorgen werde, dass nicht zu viel kantonale Eigenständigkeit den Koordinationskern wieder aufhebe (RR Amsler SH). So können denn Befürworter wie Gegner eines überkantonalen schweizerischen oder mindestens sprachregionalen Lehrplanes mehr oder weniger gelassen abwarten, wie die Vorgabe in der Deutschschweiz schulpolitisch verarbeitet werden wird.

Nun, solche Ambiguitäten sind wir in der schweizerischen – und nicht nur in dieser – Schul- und Bildungspolitik ja gewohnt. Man kann auch von Lavieren, Durchwursteln und Mogeln sprechen oder je nach Ansicht und Gemütslage in ihr einen Sinn für das Machbare, den gutschweizerischen Pragmatismus oder die erprobte politische Klugheit einer Konsensdemokratie erkennen. Zwischen beiden Sichtweisen versöhnen kann vielleicht ein Vorschein von List der Politik oder gar der Vernunft.

Ich will es aber nicht bei diesem versöhnlichen Blick allein bewenden lassen, denn ganz so harmlos ist die Sache denn doch nicht. Man muss sich durchaus ernsthaft fragen, was ein zu Koordinationszwecken erstellter  Lehrplan denn tatsächlich praktisch wert ist, der so elementare schulpraktische und die Lernprozesse substantiell bestimmende Fragen ungeklärt lässt wie die Verteilung der Zeit oder die Abfolge der Fächer im schulischen Bildungsgang. Ob nun Englisch oder Französisch als erste Fremdsprache gelehrt wird, ist gewiss pädagogisch und didaktisch nicht ausschlaggebend und deshalb auch innerschulisch nicht abschliessend zu entscheiden. Es ist aber für die Schulkoordination von ausschlaggebender Bedeutung und darüber hinaus auch in staatspolitischer Hinsicht nicht belanglos. Gerade deshalb wäre es hier Aufgabe der Politik die Rahmenbedingungen des schulischen Lehrens und Lernens zu setzen. Das gleiche gilt für die Zeitverteilung im Curriculum, die Stundentafeln. Auch hier ist klar, dass Schulzeit immer knapp ist. Ebenso klar ist aber auch, dass Lernen Zeit braucht, und es deshalb unfair ist, Schülerinnen und Schülern die gleichen Lernleistungen (Kompetenzziele) abzuverlangen bei ganz ungleich zur Verfügung gestellter Lernzeit. Wenn in einem Kanton 20 bis 30 und mehr Prozent Unterrichtsstunden für einzelne Fächer vorgesehen (finanziert) werden als in einem andern, dann stellt das die Glaubwürdigkeit eines interkantonalen Lehrplanes ganz grundsätzlich in Frage. Auch Stundentafeln sind weniger bildungstheoretisch oder didaktisch zu entscheidende Fragen, es sind schulpraktische politische Rahmenbedingungen, deren Regulierung in Auftrag und Verantwortung der Politik liegt. Wenn der LP 21 zu diesen Rahmenbedingungen nichts sagt, dann kann man das bei der Brisanz solcher Fragen zwar schon verstehen, es bleibt trotzdem ein schul- und bildungspolitisches Versagen, das die Koordinationsintentionen dieses Lehrplans substantiell konterkariert. Bei allem Verständnis, ich muss es so sagen, das ist nicht mehr klug oder listig, sondern nur politisch hilflos. Es gibt weitere Beispiele für solches Versagen, versteckt etwa in den überfachlichen Kompetenzen. Wenn da Nachhaltigkeit gefordert wird oder die Informatik in einen Bereich ohne Fach und Zeit abgeschoben wird, so dient das zwar dem guten Gewissen und dem Anschein von Zukunftsfähigkeit dieses Lehrplans, bleibt aber doch Ausdruck eines politischen Sich-Wegdrückens vor der Verantwortung für das Setzen von schulischen Rahmenbedingungen.

Die Projektleitung und die politische Führung des Projektes LP 21 betonen mehrfach, dass es beim neuen Lehrplan nicht um eine Schulreform gehe, sondern um Schulkoordination. Umso unverständlicher muss es dann bleiben, wenn statt die endliche Regulierung zentraler schulpraktischer Rahmenbedingungen zu verkünden, die Regelung von allein pädagogisch professionell zu klärenden und zu bewertenden Fragen gerühmt wird wie die Kompetenzorientierung im Unterricht oder die Lern- und Kompetenzstufen. Darin zeigt sich auch eine bemerkenswerte und nicht unproblematische Verschiebung der thematischen Akzente in der curricularen Planung. Staatliche Lehrpläne sollten ja in der Tat nicht primär pädagogische und didaktische Probleme des Lehrens und Lernens lösen und regeln, sondern die Zielsetzungen und die Rahmenbedingungen dafür klären. Ersteres sollte der Profession vorbehalten bleiben.

Damit sind wir bei einem weiteren Grundgebrechen, des vorliegenden Lehrplans angelangt. Er präsentiert sich wie kaum einer zuvor als pädagogisch-didaktischer Lehrplan. Freilich werden manche dieses Gebrechen gerade als seinen besonderen Vorzug rühmen. Der LP 21 macht in manchen Bestimmungen den Eindruck, unterrichts- und lehr- und lernpraktische Probleme gleichsam stellvertretend für die Lehrerinnen und Lehrer lösen und regulieren zu können. Er überschreitet damit seine ihm strukturell gesteckten Grenzen; er leistet damit auch einer problematischen Kompetenzverschiebung Vorschub, einer Verlagerung der unterrichtspraktischen professionellen Kompetenz der Lehrerschaft (Zuständigkeit und zugeschriebene Tüchtigkeit)  von der Schule in die Schuladministration und die pädagogischen Hochschulen mit ihren fachdidaktischen Entwicklungs- und Forschungszentren. Aber Lehrpläne können allenfalls die Institution Schule ausrichten und regulieren, aber nicht den Unterricht und die Lehr- und Lernprozesse. Es ist entweder naiv oder hybrid übergriffig, diese Differenz nicht zu erkennen und anzuerkennen.

Eine gewisse unverfrorene Naivität kennzeichnet denn auch die jetzt eingeleitete Konsultation. Die D-EDK hat den Lehrplan21 zur Konsultation freigegeben. Wenn ich das richtig sehe, handelt es sich dabei nicht um eine Vernehmlassung, wie sie bei Verordnungen und Gesetzesvorhaben in der Schweiz sonst  üblich ist. Das leuchtet insofern ein, als der veröffentlichte LP 21 gar nicht direkt verordnet werden soll, sondern nach definitiver Verabschiedung durch die D-EDK lediglich als überregionale Empfehlung zur Einführung an die Kantone freigegeben werden soll. Zur Stellungnahme eingeladen sind primär die Projektkantone, die nationalen oder sprachregionalen Organisationen der Lehrerschaft, der Arbeitswelt, der Kirchen und Religionen, die betroffenen Bundesämter, Konferenzen im Bildungswesen und die politischen Parteien auf Bundesebene. Die Logik dieser Einladungen leuchtet ebenfalls ein. Nicht eingeladen sind die einzelnen Kantone der Romandie. Für sie kann die Projektleitung des Plan d´ Etudes Romand Stellung nehmen. Nicht direkt eingeladen sind Schulen, auch nicht die kantonalen Sektionen der politischen Parteien der Projektkantone. Von den Hochschulen sind die Pädagogischen Hochschulen eingeladen, nicht aber die Fachhochschulen und Universitäten. Insgesamt wird dieses Einholen von Meinungen und Stellungnahmen deshalb zu Recht als Konsultation bezeichnet, dies ganz analog zu den Konsultationsverfahren, wie sie in der EU zwischen den Nationalstaaten üblich sind.

Nun liegt es natürlich im Ermessen der eingeladenen Institutionen und Organisationen, welche weiteren Gruppierungen und Personen sie bei der Erarbeitung ihrer Stellungnahme einbeziehen wollen. Offen ist auch, ob und in welcher Form die Kantone für einen nach Massgabe des LP 21 entwickelten kantonalen Lehrplan  dereinst eine weitere Konsultation (oder dann besser Vernehmlassung) durchführen werden. Während der Jahre währenden öffentlich abgeschirmten Entwicklungsphase des LP 21 wurde von den Verantwortlichen immer wieder versichert, es werde dann schon noch eine breite öffentliche Meinungsbildung durchgeführt werden. Die jetzt eingeleitete Konsultation bei Behörden und Organisationen soll das nun wohl sein.

Die Projektverantwortlichen verweisen dabei stolz auf die medien- und informationstechnischen Neuerungen, wie sie den LP 21 aufbereitet und im Internet öffentlich zugänglich gemacht hätten, als ob das heute nicht eine schlichte Selbstverständlichkeit wäre. Sie ist aber eben nicht bloss eine Erleichterung, sondern auch eine Einladung dazu, einzelne Fragen und Aspekte nach Interesse und Belieben aus dem Zusammenhang zu reissen und ohne Rücksicht auf das Ganze zu diskutieren und zu problematisieren. Denn mit Verlaub, wer soll denn, wenn er nicht gerade vom Fach ist und professionell mit Schule befasst, das ganze 557seitige Konvolut in seiner Gänze lesen, verstehen und dazu angemessen Stellung nehmen können, ausser eben einige Behörden und Organisationen? Diese mehr oder weniger naive oder zynische Überforderung der Öffentlichkeit ist das andere Ergebnis des oben angesprochen Missverständnisses, Lehrpläne müssten zugleich die Schule wie die Lernprozesse regulieren. Eine nötige öffentliche Anerkennung und Legitimität für die Klärung des Auftrages der Schule ist so kaum zu bekommen, auch nicht für die Abgrenzung des Berufsauftrages der Lehrerschaft gegen permanent drohende Ausweitung und  Überfrachtung. Das Missverständnis ist freilich auch hier ein bis tief in die Lehrerschaft und ihre Organisationen hinein verbreitetes. Nicht wirklich wissend, was sie damit verlangten, forderten diese einen ´direkt einführbaren´ Lehrplan und erhalten ihn nun in der hypertrophen Gestalt einer interkantonalen Blaupause, in der Schulverordnung, Schulleitbild,  Lehrplan, didaktisch pädagogische Prinzipien und Leitlinien, Unterrichts- und Prüfungsvorgaben untrennbar in einander amalgamiert sind.  Modern mutet das nicht gerade an, viel eher gemahnt es an den Typ einer vormodernen ‚ratio studiorum‘,  wie er noch vor jeder funktionalen Differenzierung und Planzerlegung in Gebrauch war.

Das ist das Widersprüchliche an dieser Konsultation, sie lädt zur Stellungnahme ein und lädt durch Struktur und Umfang zugleich aus. Es ist ja sachlich durchaus richtig und angemessen, ein so komplexes Werk an einer öffentlichen Stellungnahme von Laien weitgehend vorbei zu lenken.  Gewiss ist es nicht sehr zielführend, ein breites Laienpublikum auch über Kompetenzstufen und konstruktivistische Lernparadigmata diskutieren zu lassen, aber wenn man Laien auf diese Weise vom Schuldiskurs fernhält, gefährdet man nicht bloss die politische Legitimation der öffentlichen Schule, sondern verletzt letztlich auch Grundlage von Demokratie. Auch wenn es nicht einfach ist, eine verantwortbare und akzeptable Grenze zwischen dem professionellen Fachdiskurs und dem öffentlichen Gespräch über Schule und Bildung zu ziehen, darin liegt eben die eigentliche Herausforderung solcher Prozesse. Das gilt, je weiter der postmoderne Strukturwandel der Öffentlichkeit voranschreitet, beschleunigt durch die informationstechnologische Revolution und die zunehmende Professionalisierung und Theoretisierung aller Lebenspraxen, auch von Erziehung und Bildung. Wie der öffentliche Schuldiskurs bei fortschreitender Professionalisierung und Verwissenschaftlichung gestaltet werden kann, dazu hätte man ein paar klärende Gedanken und Überlegungen zumindest von Seiten des wissenschaftlichen Projektbeirates erwarten dürfen. Welches wäre denn die angemessen Plattform dafür, wenn nicht der Lehrplan? Aber eben, wie hätte der unter den neuen Bedingungen von Öffentlichkeit  auszusehen?  Wirklich so wie der LP 21? Wohl kaum!

Ich denke, wir bräuchten dringend einen auf die schulischen Bildungsziele und die strukturellen Rahmenbedingungen von Schule und Unterricht reduzierten Lehrplan, der den Auftrag der Schule wie der Lehrerschaft öffentlich legitimiert klären könnte und kein fachdidaktisch pädagogisches Arbeitsbuch für die Lehrerschaft, wogegen ja auch nichts einzuwenden wäre, wenn es sich nicht als Lehrplan ausgäbe.  50 Seiten hat mal ein kantonaler Erziehungsdirektor zu Beginn des Projektes als Umfang für den LP 21 gefordert. Alles weitere sollte praxisnah entwickelten Schulplänen vorbehalten bleiben. Nun hat man beides ineinander verwoben. Der LP21  ist in seinem Umgang auf mehr als das zehnfache angewachsen.

Wenn man nun bedenkt, dass auch dieser Lehrplan in welcher kantonal modifizierten Form auch immer nicht ohne Lehrmittel und Schulbücher auskommen wird, ohne Lernaufgaben und Prüfungsprogramme, die ihn nach Lage der Dinge und der Dynamik gesellschaftlicher wie erziehungswissenschaftlicher und schulischer Entwicklungen in vielen Aspekten schon bald überholt haben werden, noch bevor er im Jahre 2016 oder 2018 in kraft- und umgesetzt werden wird, so beschleichen einem Zweifel an der Rationalität solcher Übungen.

¨Für alles Lehren und Lernen gilt, dass es grundsätzlich nicht delegierbar ist und nicht stellvertretend von anderen wahrgenommen oder vollzogen werden kann¨ (Benner 2012, 95) *, weder von Fachdidaktikerinnen und Fachdidaktikern, noch gar von Bildungsadministratoren und  Lehrplankommissionären. In diesem Sinne hat denn auch schon der Doyen der schweizerischen Bildungsforschung und -soziologie Walo Hutmacher am Züricher Lehrplansymposion von 1999 für eine ¨curriculare Bescheidenheit¨** plädiert. Er tat es exakt im Hinblick darauf, dass Lehrpläne Lernprozesse, individuelle wie institutionelle, nicht direkt steuern können, sie geben lediglich eine grobe Richtung erwünschter Anstrengungen an. Unserem demnächst erscheinendes Studienbuch ¨Lehrplan – Programm der Schule¨*** haben wir  deshalb auch entlastend wie warnend eine Strophe aus Brechts ¨Lied von der Unzulänglichkeit des menschlichen Strebens¨ vorangestellt:

Ja, mach´ nur einen Plan
Sei nur ein grosses Licht!
Und mach dann noch ´nen zweiten Plan
Gehn tun sie beide nicht.

Denn für dieses Leben
Ist der Mensch nicht schlecht genug.
Doch sein höh’res Streben
Ist ein schöner Zug.

B. Brecht: Die Dreigroschenoper

Rudolf Künzli im  Juli 2013

[*] Benner, D. (2012). Schule im Spannungsfeld von Input- und Outputsteuerung? In  ders.: Bildung und Kompetenz. Studien zur Bildungstheorie, systematischen Didaktik und Bildungsforschung (95-109). Paderborn: Schöningh.

[*] [*]  Hutmacher, W. (2002). Changing Perspective. In: Rosenmund, M.; Fries, A.-V. & Heller, W. (Eds.), Comparing Curriculum-Making Processes, 333-350). Bern: Peter Lang.

[*] [*] [*] Künzli, R., Fries, A.-V., Hürlimann, W. & Rosenmund, M. (2013. Lehrplan – Programm der Schule. Weinheim: Beltz Juventa.

 

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