Lehrplanforschung

Curriculare Planungen

Kontrollierte Diskurse

Posted on | November 21, 2012 |

Der Blog ‚Lehrplan unter Verschluss – eine Büchse der Pandora?‘ und einige persönliche Rückmeldungen geben mir Anlass, das Lehrplanentwicklungsverfahren, soweit es öffentlich bekannt und erkennbar ist,  und die im Blog angesprochenen Probleme aus lehrplantheoretischer Sicht etwas weiter ausholend zu analysieren. Ich tue das im Anschluss an meine Analyse‚ „Lehrplan21 – ein bildungspolitisches Projekt?“, die ich auf Einladung der PHZH an deren Forschungstag am 7.10.2011 vortragen durfte. Und ich knüpfe dabei auch an meinen Aufsatz „Der Lehrplan als Auftrag der Gesellschaft an die Schule“ an, den ich im Auftrage der Herausgeber L. Criblez, B. Müller, J. Oelkers für ihren Sammelband „Die Volksschule zwischen Innovationsdruck und Reformkritik“ (Zürich: NZZ Verlag 2011, S. 200-216) verfasst habe.    

Strittig sind Lehrplanentscheidungen allemal. Und wo aus taktischen oder andern Gründen der Streit über Inhalte und Darstellungsformen unter der Decke gehalten, verschoben oder blockiert wird, werden Verfahren Gegenstand des Gesprächs. Hinter verschlossenen Türen von Gremien und Expertentreffen wird dann allerhand vermutet. Vermeidbar ist der „Kampf geistiger Mächte“, wie der führende deutsche Lehrplantheoretiker des letzten Jahrhunderts den Streit um Lehrpläne genannt hat, nicht.

Eine Strategie zur Kontrolle und rationalen Bewirtschaftung dieses ‚Kampfes‘ haben die Bildungsverwaltungen bereits im vorletzten und letzten Jahrhundert entwickelt. Sie trennten ihre fachlich administrative Arbeit sukzessive von den politischen Auseinandersetzungen und Entscheidungsprozessen. Sie hielten sie auch getrennt von innerschulischen Debatten und Problembearbeitungen. Man hat diese bürokratische Kanalisierung des gesellschaftlich wuchernden Diskurses über Schule als ‚Diskursentmischung‘ beschrieben. Dazu gehörte auch, dass die Themen und Gegenstände der Auseinandersetzung in einzelne Bereiche aufgeteilt wurden. Statt alles in einem grossen Lehrplandokument zu regeln, wurden die einzelnen Bereiche wie etwa die Stundentafeln die Gliederung der Schulstufen oder Promotionsregeln in separaten Verfahren bearbeitet. Für die einzelnen Verfahren machte man zunehmend auch spezielle Fachleute verantwortlich; und die erarbeiteten Regelungen wurden in separaten Dokumenten festgehalten. Diese „Planzerlegung“ ermöglichte es, Lehrplanentwicklungen personell zu spezialisieren und zu professionalisieren. So konnte auch der Zugang zu den verschiedenen Diskursen begrenzt und das fachliche Gespräch an inhaltliche Standards und Verfahrensregeln gebunden werden. Solche Ordnungen des Diskurses entlasten das Gespräch von direkten politischen Interessenkonflikten und von ideologischen Kontroversen um Werte und Traditionen. Der gesellschaftliche Streit der Politik und der ‚Laien‘ über Schule und Unterricht kann geführt werden, ohne dass die Praxis von Schuladministration und Unterricht unmittelbar betroffen wird. So jedenfalls die Theorie, die zumindest im preussisch geprägten deutschen Bildungswesen lange Zeit auch ganz gut funktionierte.

In der direkt demokratisch verfassten Gesellschaft der Schweiz mit ihrer traditionell konsensorientierten Problembearbeitung und ihrer Politik der Konkordanz funktionierte bislang diese Diskursentmischung kaum. Im Gegenteil, hier herrscht der Grundsatz der Mischung der Diskurse. Bis vor kurzem, noch vor Einführung von Schulleitungen und externen Evaluatoren wurden die Schulen von Laiengremien geführt, die Lehrpersonen von Laien eingestellt und deren Leistung von Laien und Kollegen beurteilt. Im Grundsatz wenigstens wurde und wird die öffentliche Meinung, die Meinung des Volkes bzw. der Mehrheit auch als kompetente Meinung in Sachfragen anerkannt. Zumal in Fragen von Schule, Erziehung und Bildung gilt der Grundsatz, im Zweifel für das Volk und nicht für die Wissenschaft und die Experten. Selbst von diesen kann man hier mitunter das Lob der Laienkompetenz hören und Aufrufe lesen, in Sachen Erziehung doch dem eigenen „Bauchgefühl“ zu vertrauen. Aber die Sache ist vertrackter, als man meinen könnte.

Längst hat auch hierzulande der Rationalisierungsprozess in Gestalt von Evidence-based-educational-policy und Output-orientierter Governance das Bildungswesen erfasst, bestimmen internationale Trends, Standards und Vergleiche die Schuladministrationen und die Schulentwicklungen. Und so sind denn auch Lehrplanentwicklungen zu hochkomplexen Projekten geworden. Deren Management muss einen diffizilen Ausgleich finden zwischen der geforderten Rationalität und den  älteren Erwartungen an Mitsprache. Denn erst die Zustimmung  von subjektiv und situativ begrenzt Sachkundigen und ‚Laien‘ verleiht administrativen und politischen Entscheidungen Legitimität und Akzeptanz. Dabei liegen subjektive Sachkunde und intersubjektive, die grösseren Zusammenhänge betonende und wertende Expertisen nur zu oft im Widerstreit, zumal in Fragen von Schule und Erziehung. Entscheidungen im Bildungsbereich sind deshalb auf Verständigung und Angemessenheit  und nicht einfach auf ‚Wahrheit‘ unter Experten angewiesen. Das Projekt Lehrplan21 ist ein schönes Beispiel für den hier zu leistenden Ausgleich.

Von Seiten der Lehrplantheorie stehen grundsätzlich zwei klassische Modelle der Lehrplanentwicklung zur Wahl, ein zweckrationales und ein diskursives. Das erste setzt auf eine rationale und wissenschaftsgestützte Konstruktion in Expertengremien, das zweite auf topische Prozesse der Beratung und Entscheidungsfindung, wie sie in Politik und Rechtsprechung geläufig sind. Es ist nicht so, dass die beiden Modelle sich gegenseitig ausschlössen, aber sie setzen je andere Akzente. Nun, der Lehrplan21 ist ein komplexes Projekt, es ist in der Absicht, seine Komplexität zu reduzieren, primär nach dem zweckrationalen Muster konzipiert und organisiert, es enthält aber auch Elemente des topischen diskursiven Musters. Diese sollen den oben angesprochenen Ausgleich von Expertenrationalität und Erwartungen an Mitsprache herstellen und so die Akzeptanz der Ergebnisse sichern. Ich will das etwas genauer darstellen.

Das Lehrplanprojekt steht in enger Verbindung mit drei anderen, grossenteils abgeschlossenen Projekten. Es scheint mir wichtig, das hier inszenierte Zusammenspiel von nationalen und kantonalen Zuständigkeiten und Projekten sichtbar zu machen. Das erste hier relevante Projekt ist das grosse nationale Projekt einer Ergänzung der Bundesverfassung mit einem neuen Bildungsartikel. Es war dies ein lange andauerndes, in den zuständigen Parteien, Gremien und Parlamenten und in der Öffentlichkeit beratenes und diskutiertes politisches Projekt, an dessen Ende am 21. Mai 2006 eine Volksabstimmung stand. Der angenommene Verfassungsartikel forderte u.a. eine nationale Angleichung der kantonalen Besonderheiten im schweizerischen Bildungswesen. Diese Forderung führte u.a. zum HarmoS-Konkordat, einer interkantonalen Vereinbarung über die Harmonisierung der obligatorischen Schule, das am 14. Juni 2007 von der Plenarversammlung der EDK beschlossen wurde. Die einzelnen Kantone entschieden in Volksabstimmungen darüber, ob sie dem Konkordat betreten wollten. Nachdem das erforderliche Quorum eines Beitritts von mindestens 10 Kantonen erreicht war, wurde das Konkordat am 1. August 2009 in Kraft gesetzt. Schritte zur politischen Umsetzung dieser Vereinbarung sind a) das bereits 2003 gestartete HarmoS-Projekt zur Entwicklung nationaler Bildungsstandards für die Volksschule und b) die beiden Projekte zur Entwicklung sprachregionaler Lehrpläne, der Plan d’études romands (PER) und für die deutschsprachigen Kantone der Lehrplan21. Die nationalen Bildungsstandards wurden für die Fächer Mathematik, Schulsprache, 1. Fremdsprache und Naturwissenschaften in einem national organisierten und geführten Entwicklungsprojekt von fachdidaktischen Konsortien entwickelt, praktisch erprobt und wissenschaftlich validiert. Die Ergebnisse dieses Projektes wurden vom nationalen Koordinationsorgan EDK  16. Juni 2011 den Kantonen zur Einführung und Umsetzung freigegeben, nicht aber für die Schulen in Kraft gesetzt. Die nun ‚Grundkompetenzen‘ genannten nationalen Bildungsziele sollen in die sprachregionalen Lehrpläne als ‚Zielvorgaben einfliessen‘. (Vgl. Schulpolitik als Sprachübung) Im Projekt Lehrplan21 wird ein solcher Lehrplan für die deutschsprachige Schweiz entwickelt. Im Management dieses Projektes wählte man mehrstufiges Verfahren.

Nach ersten Vorbereitungsarbeiten mandatierte der Lenkungsausschuss der D-EDK am 4. März 2004 eine Arbeitsgruppe mit dem Auftrag, ein Konzept zur Entwicklung eines Deutschweizer Lehrplans für die Volksschule zu erstellen. Diese legte dem Lenkungsausschuss am 20. Mai 2005 ein rund 30seitiges Konzept vor, welches dieser den 21 deutschsprachigen Erziehungsdirektionen, der Projektleitung HarmoS und dem LCH zur Stellungnahme zukommen liess. Die Ergebnisse dieser Konsultation wurden  wiederum dem Lenkungsausschuss am 21. November 2005 zur Beratung und Festlegung des weiteren Vorgehens vorgelegt. Es folgten Abklärungen und Konsultationen und schliesslich Ende 2006 die Einsetzung einer neuen Projektorganisation zur Erarbeitung eines sprachregionalen Lehrplanes für die deutschsprachige Schweiz.

Zunächst wurde ein Grundlagenbericht erarbeitet, welcher die kantonalen Voraussetzungen für einen gemeinsamen Lehrplan sichtete, die Ziele formulierte und zentrale Eckwerte definierte, wie die Fachbereiche und ihre Bezeichnung, den Aufbau des Lehrplans, die Struktur der Zielvorgaben. Der Bericht skizziert auch einen groben Erarbeitungsplan. Nach einer ersten gutachterlichen und verwaltungsinternen Konsultation bei den kantonalen Behörden und den Lehrerverbänden wurde eine zweite Fassung in eine breite öffentliche Vernehmlassung gegeben und deren Ergebnisse in einen Schlussbericht eingearbeitet, den die auftraggebende Versammlung der deutschsprachigen EDK am 18. März 2010 verabschiedete.

Für die nächste Phase wurde das Projekt reorganisiert. Die Projektorganisation wurde ausgebaut und differenziert. Fünf kantonale Erziehungsdirektoren bilden die Steuergruppe. Projektleitung, Fachbeirat, Begleitgruppe und Expertenteams wurden eingesetzt und die Fachbereichteams berufen, die den neuen Lehrplan erarbeiten sollen. Im Fachbeirat sind die gewerblich industrielle Berufsschule, der Schweizerische Gewerbeverband, die Pädagogischen Hochschulen, die Universitäten und der LCH mit ausgewiesenen Persönlichkeiten vertreten, in der Begleitgruppe Vertreterinnen und Vertreter der Kantone und wiederum der LCH. In ein Expertenteam ‚Nahtstelle Sekundarstufe II‘ nahmen 25 Vertreter und Vertreterinnen der abnehmenden beruflichen und allgemeinbildenden Schulen Einsitz. In die Fachbereichsteams wurden zu etwa gleichen Teilen Lehrpersonen und Personen der Fachdidaktik berufen. Als erstes Produkt wurde auf der Basis des Grundlagenberichts das Design oder die Grobstruktur des Lehrplans in einem Arbeitspapier festgelegt, das von der auftraggebenden Plenarversammlung am 28. Oktober 2011 zur Veröffentlichung freigegeben wurde. Eine Vernehmlassung dazu hat nicht stattgefunden.

Die freigegebenen Informationen aus dem Projekt werden über die Website www.lehrplan21.ch veröffentlicht. Die Website des Projektes besteht m. W. seit Frühjahr 2008. Sie enthält die Informationen zu den Zielen, zum Aufbau,  den Zeitplan und die Organisation des Projektes. Aufgeschaltet sind darin ferner das Mandat, der Grundlagenbericht und das Arbeitspapier über die Grobstruktur des neuen Lehrplanes. 10 knappe Medienmitteilungen über vier Jahre verteilt finden sich hier. Die erste stammt vom 16.06.2008, die jüngste berichtet von der Neuwahl des Präsidenten der Steuerungsgruppe am 31.10.2012. Die zweitjüngste zeigt ein Jahr früher, datiert vom  14. 11. 2011, die Freigabe des Arbeitspapiers zur Grobstruktur an. Und davor, am 16. 06. 2011, nimmt die deutschsprachige D-EDK Stellung zu einer unplanmässig aufgekommenen Kontroverse zur Sexualerziehung in der Schule. Es ist der einzige Text nach Grundlagenbericht und Grobstruktur, in dem eine konkret inhaltliche Lehrplanfrage zur Sprache kommt. Inhaltliche Informationen zum Zwischenstand der Entwicklungen, zu wesentlichen inhaltlichen Kontroversen, Problemstellungen oder Entscheidungen sind keine verfügbar. So gibt es auch keine Informationen darüber, wie und in welcher Form die im Rahmen des HarmoS-Projektes erarbeiteten Grundkompetenzen (Bildungsstandards) in den Lehrplan eingearbeitet werden, ob sie als ganze übernommen oder umformuliert, erweitert oder gekürzt etc. Teil des Lehrplans werden. Kurz, wir wissen nicht genau, was  heisst, die ‚Grundkompetenzen werden als Zielvorgaben in die sprachregionalen Lehrpläne einfliessen‘. Das zu wissen, wäre im Hinblick auf das geplante Bildungsmonitoring wichtig, welches sich wohl primär nach den Grundkompetenzen richten soll und nur indirekt nach den Lehrplänen. Überblickt man den Aufbau und die dürftigen Einträge auf der Webseite, so bekommt man den Eindruck, dass die Projektverantwortlichen das an sich interaktive Medium Internet als eine elektronische Litfasssäule für ihre offiziellen Verlautbarungen und Kundgaben nutzen. Ansätze zu einer hier möglichen Kommunikation und Verständigung über zentrale Lehrplanentscheidungen sind nicht zu erkennen. Selbst reine Sachinformationen unterliegen strenger Kontrolle. Die Fachbereichsteams sind – so die Auskunft – nicht befugt, Informationen zum Stand ihrer Arbeiten nach aussen zu geben.

Man kann das ganze Prozedere professionell und konsequent produkt- und erfolgsorientiert nennen. So könnte zweifellos auch ein Projekt zur Produktion eines attraktiven, umweltfreundlichen und kostengünstigen Automobils organisiert und geführt werden. Nur eben, Lehrpläne sind keine Automobile, sie müssen nicht möglichst unter Ausschluss von Konkurrenz und Öffentlichkeit entwickelt, getestet und dann auf Hochglanz poliert einer staunenden Kundschaft zum Kaufe angeboten werden. Lehrplanprozesse sind gesellschaftspolitische und kulturelle Prozesse. In ihnen werden kluge und breit akzeptierte Antworten auf die Fragen gesucht, was aus dem erreichten Bestand an Werten, Überzeugungen, Wissen und Können tradierenswürdig ist und mit welchen grundlegenden Kompetenzen die nachwachsende Generation für eine unsichere Zukunft kulturell und ökonomisch überlebensfähig qualifiziert ist. Ich bezweifle, dass die im Projekt Lehrplan21 gewählte Informations- und Kommunikationspolitik für das Finden kluger und allgemein überzeugender Antworten auf diese Fragen genügt. Es scheint mir auch dem grossen Potential an Intellekt, Erfahrung und Engagement, das sich im Projekt versammelt hat, nicht angemessen Rechnung zu tragen und dem elementaren Bedürfnis nach Austausch und Verständigung unter den Beteiligten und ihrem Umfeld nicht gerecht zu werden.

Nachvollziehbar und gerechtfertigt ist der Wunsch nach möglichst ungestörter Entwicklungsarbeit, nach Diskursentmischung. Nicht nachvollziehbar aber ist die Ausschaltung, Unterdrückung, Verhinderung oder Vermeidung des öffentlichen Lehrplandiskurses. Auch wenn die Entwicklungsarbeit im Detail sinnvollerweise nicht Gegenstand eines öffentlichen Diskurses sein kann, so wäre ein solcher doch parallel zu führen, zu bedienen, vielleicht gar zu organisieren. Man wird ja nicht annehmen wollen, dass die Diskurse im Zusammenhang mit dem Verfassungsartikel und dem HarmoS Konkordat den öffentlichen Gesprächsbedarf über den Auftrag der Gesellschaft an Schule hinreichend abgedeckt hätten. Nun, man versichert uns, dass weitere substantielle Werte- und Schuldebatten ja vorgesehen seien: „Dieser Lehrplan-Text soll in eine (erste) Form gebracht werden, hinter der die beteiligten Lehrerinnen und Lehrer stehen, die Fachdidaktikerinnen und Fachdidaktiker, der Fachbeirat, die Begleitgruppe der 21 Volksschulämter … und auch die auftraggebenden Kantone: Der Lehrplantext soll von den vom Volk gewählten Vorstehern/innen der Bildungsdirektionen für die Anhörung im Sommer 2013 freigegeben werden.“ Gestützt darauf wolle man dann entscheiden, wie  es weitergehe und bis Ende 2014 den Kantonen eine interkantonale Lehrplanvorgabe vorlegen, welche diese dann in eigener Regie und Verantwortung überarbeiten, anpassen, ergänzen und mit einer Lektionentafel versehen könnten und sollten, um den nun kantonalen Lehrplan in ihre kantonal geregelte Vernehmlassung zu geben.

Das sind kostspielige politische Prozeduren. Man könnte zunächst annehmen, damit seien hinreichend Möglichkeiten und Phasen des öffentlichen Gesprächs gegeben. Indessen garantiert kein noch so rechtskonformes Verfahren schon Akzeptanz für politische Sachentscheidungen, wie etwa das Beispiel Stuttgart21 (sic!) in einem ganz anderen Felde lehren könnte. Ihre Legitimität schaffende Kraft entfalten sie nur, wenn sie auch glaubwürdig sind. Und mit der Glaubwürdigkeit der Verfahren ist es im vorliegenden Fall nicht zum Besten bestellt. Zwar wird mit den kantonalen Vernehmlassungen und Inkraftsetzungen den gegebenen Zuständigkeitsregeln und demokratischen Prozessen in unserm föderalen Bildungssystem Genüge getan, aber dass diese auch als ernsthafte gesamtgesellschaftliche Klärungen des Auftrages an die Schule wahrgenommen werden, muss doch bezweifelt werden. Während sechs Jahren (ohne die Zeit für das Vorlaufprojekt von 2 Jahren und Entwicklungszeit für die Bildungsstandards von rund 8 Jahren mitzurechnen) wird mit grossem Aufwand ein sprachregionaler Lehrplan entwickelt. Er soll soweit präzisiert sein, dass er direkt in den Schulen der einzelnen Kantone  einführbar ist. In ihn werden die nationalen Bildungsstandards eingearbeitet, welche die Grundlage für das wiederkehrende Bildungsmonitoring sein sollen. Dieser ‚fertige’ Lehrplan wird dann mit der ganzen fachlichen und schulpolitischen Autorität der ‚hinter ihm stehenden‘ Schulverwaltungen, Beiräte und Entwicklungsteams den Kantonen (die nota bene zugleich die verantwortlichen Auftraggeber selber sind) zu einer nicht näher bestimmten Anhörung und kantonalen Anpassung weitergereicht, wohl wissend, dass jede substantielle kantonale Veränderung das ganze Unternehmen einer inhaltlichen Harmonisierung unserer Volksschule in Frage stellen müsste. Wie ernsthaft kann eine solche kantonale Vernehmlassung dann noch sein? Auch die andere Legitimität schaffende Komponente, die Beteiligung der direkt betroffenen Lehrerschaft in den Entwicklungsteams ist für sich genommen kaum hinreichend. Sie dient, wie wir aus manchen Lehrplanprojekten wissen, in erster Linie der Qualifikation der direkt Beteiligten, vermag aber in der Regel den Ergebnissen nur wenig Akzeptanz und Brauchbarkeit zu sichern. Im Zweifelsfall entfremden sich die direkt Beteiligten von ihren Berufskollegen in den Schulen und diese von ihnen. Anerkennungskräftig wirkt solche Beteiligung allein durch die Sichtbarkeit und Wahrnehmbarkeit des Ringens um die richtigen Lösungen, und das heisst durch die  Öffentlichkeit der Kontroversen und Konflikte, die in Lehrplanentwicklung notwendig ausgetragen werden müssen.

So sind in dem gewählten Verfahren manche sich widersprechende Botschaften strukturell eingebaut. Dabei ist gewiss Vieles unserem schweizerischen kooperativen Föderalismus und der Furcht vor zentralen Schulvögten geschuldet. Zu kritischen Einwänden Anlass geben nicht das Engagement und die besten Absichten der Beteiligten. Es sind die im Vorfeld nicht hinreichend analysierten und geklärten Prozessstrukturen, die den Erfolg des Projektes bedrohen können. Der Versuch, die kantonale Schulhoheit zu wahren und gleichzeitig einen interkantonalen Lehrplan unter weitgehendem Ausschluss der Öffentlichkeit in Fachgremien so differenziert auszuarbeiten, dass er in den Kantonen direkt einführbar sein und die nationalen Bildungsstandards enthalten soll, ist in mancher Hinsicht systemsprengend. Unter den gegebenen Umständen hätte sich die Erarbeitung eines nur die grossen Linien des Schul- und Bildungsauftrages skizzierenden interkantonalen Rahmenplanes angeboten. (Vgl. dazu meine Überlegungen im erwähnten Aufsatz ‚Der Lehrplan als Auftrag der Gesellschaft an die Schule‘). Auf der Grundlage eines solchen interkantonal verbindlichen und politisch konsentierten Rahmens wäre eine kantonale, schulregionale oder vielleicht gar schulinterne Ausarbeitung von dann wirklich direkt einführbaren und situationsgerechten (rekontextualisierten) Lehrplänen möglich. Ein solches Verfahren hätte zwei Vorteile, es wäre unseren demokratisch verfassten Strukturen angemessen und die Erarbeitung lokaler Schullehrpläne könnte zugleich als ein tragendes Element jener Schulentwicklung organisiert werden, welche die Einführung von kompetenzorientierten Lehrplänen erfordert. Eine vergleichbare Lösung haben einige deutsche Bundesländer mit der Entwicklung von Kerncurricula als Rahmenvorgaben und in den Schulen selbst zu entwickelnden Schullehrplänen gewählt.

Die Form der für den Lehrplan21 gewählten Lehrplanentwicklung aber gleicht dagegen in vielen Zügen dem, was in den 70er Jahren und bereits in den 50er Jahren in den USA als Curriculumentwicklung praktiziert wurde. Jürgen Habermas hat anlässlich der Verleihung des Hegelpreises in seiner Rede „Können komplexe Gesellschaften eine vernünftige Identität ausbilden?“ auch beiläufig das damalige Scheitern der Curriculumrevision in Deutschland, die nota bene höchst professionell konzipiert, organisiert und durchgeführt wurde, analysiert und dazu festgestellt: „Heute müssen die Verwaltungen Curricula planen, ohne sich an Traditionen anlehnen zu können. … Die Curriculumplanung versucht, eine wesentliche Leistung der Tradition, nämlich aus der Menge der zugänglichen Überlieferungen eine legitime Auswahl zu treffen, nun selbst zu übernehmen. Indem sie Lernziele präzisiert, deren Auswahl argumentativ begründet, Lernzielzusammenhänge konkretisiert und in einzelnen Lernschritten operationalisiert, verstärkt die Curriculumplanung den Rechtfertigungszwang gegenüber jener Sphäre, die sich gerade durch ihre Kraft zur argumentarmen Selbstregulierung ausgezeichnet hatte. Aber bei diesem Versuch machen Verwaltungen eine typische Erfahrung: Ihre Legitimation reicht für die neue Aufgabe einer argumentativ gerechtfertigten Auswahl aus kulturellen Möglichkeiten nicht aus. … Vielmehr bedarf es dazu eben jener wert- und normbildenden Kommunikation, die nun unter Eltern, Lehrern, Schülern einsetzen und beispielsweise Bürgerinitiativen auf den Plan rufen. Hier werden die kommunikativen Strukturen eines allgemeinen praktischen Diskurses von selbst hervor getrieben, weil die Traditionsfortbildung aus ihrem naturwüchsigen Medium herausgetreten ist und weil ohne eine argumentativ gefilterte Willensbildung auf breiter Basis ein neuer Wertekonsens nicht erreicht werden kann.“  Und bereits in den 60er Jahren hat der amerikanische Biologe und Curriculumforscher Joseph J. Schwab die damals herrschende Curriculumentwicklung als ‚moribund‘ bezeichnet und stattdessen für eine an der aristotelischen Topik geschulte eklektische deliberative Praxis der öffentlichen Entscheidungsfindung plädiert. Und der andere grosse Curriculumforscher und Kunstpädagoge von der Standford University, Elliot W. Eisner, machte dazu die Anregung, dass in jede Lehrplanentwicklung zwingend Personen eingebunden werden sollten, die das Bildungssystem nicht erfolgreich durchlaufen haben, um so den sich selbst bestätigenden und reproduzierenden inneren Kreis der Schulexperten zu durchbrechen. Es macht ganz den Anschein, als ob die Projektleitung Lehrplanprozesse als rein schulpädagogische und schuladministrative Angelegenheiten versteht und die gesellschaftlichen und kulturellen Dimensionen von Lehrplanprozessen unterschätzt. Lehrplanentscheidungen sind allemal ein Eingriff in das nicht beliebig pädagogisch verfügbare Dispositiv der Verteilung und Organisation des Wissens in einer Gesellschaft. Es sind keine rein pädagogischen, fachdidaktischen oder schulpraktischen Entscheidungen.  Werden sie zu solchen gemacht, werden die grossen Fragen und Kontroversen der Gegenwart ausgeklammert, Schlüsselprobleme nannte sie Klafki, bleibt allein  ein administrativ aufgeplustertes Verfahren zur bürokratischen Schlichtung didaktischer Kontroversen.

Es ist bemerkenswert und etwas befremdlich zugleich, dass ausgerechnet die Schweiz ein doch eher expertenzentriertes und obrigkeitsstaatliches Verfahren wählt, um zu einer Harmonisierung ihrer Volksschule zu kommen. Wir wollen nicht hoffen, dass der Lehrplan21 einen vergleichbaren Nachruf lesen muss, wie ihn Habermas der Curriculumforschung schrieb.

Aarau im November 2012
Rudolf Künzli

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