Lehrplanforschung

Curriculare Planungen

Lehrplan 21 unter Verschluss – eine Büchse der Pandora?

Posted on | November 4, 2012 |

Die Kantone der Deutschschweiz könnten in diesem Jahr ein Jubiläum feiern: Vor zehn Jahren ertönte der Startschuss zu dem Projekt, das heute unter der Bezeichnung Lehrplan 21 bekannt ist. Was gäbe es zu feiern? Niemand weiss es.

Mit ‚Rauchzeichen vom Lehrplan 21‘ überschreibt Michael Schönenberger seinen Bericht in der NZZ vom 1. November 2012 über eine Verlautbarung der Konferenz der Schweizerischen Erziehungsdirektoren zum Lehrplan 21. Die Überschrift trifft den Sachverhalt vortrefflich. Rauchzeichen gehören zur Kommunikationspolitik des Vatikans, aber auch der Indianer auf dem Kriegspfad.  Dass sich diese Form der Kommunikation halten kann bis in die Schulpolitik des 21. Jahrhunderts  in einem notabene demokratisch verfassten Gemeinwesen in der Schweiz, verdient Beachtung.  Auch wer dabei wirklich Häuptling ist oder kommunikativ nur schlecht beraten, das wissen wir hier wie dort nicht, vor allem nicht bei der Kirche, und jetzt auch nicht bei der Schule.

Blicken wir zurück: Im März 2002 kamen die Erziehungsdirektoren und –direktorinnen der EDK-OST, der NW EDK und der BKZ zusammen, um sich zu einer deutschsprachigen EDK zusammenzuschliessen – unter anderem in der Absicht, einen gemeinsamen Lehrplan für die obligatorische Schule in der Deutschschweiz zu entwickeln. Im Juli 2004 nahm man die Arbeit im Rahmen eines Vorprojekts Deutschschweizer Lehrplan auf. Im Oktober 2011 konnte die inzwischen gegründete D-EDK den Bericht Grobstruktur Lehrplan 21 freigeben. Die Bedeutung des Berichts bestand im Wesentlichen darin, dass die Projektleitung den Aufbau des Lehrplans und die Form der Zielbeschreibung (Kompetenzen) festlegte und publik machte. Im Winterhalbjahr 2011/12 erarbeiteten Fachteams die Fachbereichslehrpläne. Resultat dieser Phase war ein Entwurf Lehrplan 21, der – gemäss einer Medienmitteilung der D-EDK – im  Sommer 2012 mit den kantonalen Erziehungsdepartementen sowie mit Verbänden der Lehrerschaft, Schulleitungen, Eltern- und Schülerorganisationen „diskutiert“ wurde. Der Inhalt dieser  Rückmeldungen ist unter Verschluss,  und es ist nicht einmal bekannt, inwiefern Akzeptanz oder Ablehnung überwiegt. Bekannt ist lediglich, dass die Projektleitung Lehrplan 21 den Entwurf zur Zeit überarbeitet. Im Sommer 2013 soll eine „breite Konsultation“ stattfinden. Es erscheint fraglich, dass es zu diesem späten Zeitpunkt noch möglich sein wird, die Ergebnisse dieser Konsultation – soll sie nicht eine Farce bleiben – in das Projekt einzuspeisen. Denn bereits im Herbst 2014 soll der Lehrplan 21 den Kantonen zur Einführung übergeben werden.

Stossend ist die Geheimniskrämerei. Eine Gruppe von Eingeweihten hat Einsicht in den Entwurf Lehrplan 21 nehmen dürfen – mit dem strikten Verbot verbunden, den Lehrplanentwurf  weiter zu geben. Wenn man das Glück hat, jemanden persönlich zu kennen, der eingeweiht ist und einem einen Blick in das umfangreiche  Dokument gestattet, weiss man zwar, dass das Wort „können“ sehr oft vorkommt, aber wehe, wenn man Genaueres erfahren möchte – selbst wenn man Lehrerin oder Lehrer ist, an einer pädagogischen Hochschule studiert oder dort arbeitet …

Auch ein Artikel in der Sonntagszeitung vom 28.10 2012 bemängelt die fehlende Transparenz: Simone Luchetta beklagt, dass im Lehrplan 21 ICT und Medienbildung als fächerübergreifender Bereich vorgesehen seien, dass jedoch Programmieren oder Informatik gar nicht vorkämen. Das habe ETH-Professoren veranlasst, eine „Bildungskatastrophe“  zu prophezeien. Dieses Aufbegehren habe denn auch „Erfolg“ gezeitigt: Der Geschäftsführer der Deutschschweizer Erziehungsdirektorenkonferenz, habe versichert, er nehme die Bedenken ernst.

Der Geschäftsleiter der D-EDK begründet die Geheimhaltung damit, dass der Entwurf bei den Erziehungsdirektionen gut abgestützt sein müsse, was dem Unternehmen den unangenehmen Charakter eines Top-down-Projektes verleiht.

Die bisherigen Erfahrungen zeigen, dass die D-EDK und insbesondere die Projektleitung kein Interesse daran haben, eine öffentliche Debatte zu führen über die Inhalte dessen, was Schülerinnen und Schüler in den Schulen der 21 Deutschschweizer Kantone eigentlich lernen sollen. Wohl besehen, im Hinblick auf einen Lehrplan, der in 21 Kantonen und Schulen der Deutschschweiz „direkt einsetzbar“ sein soll, das Potenzial in sich bergen muss, die bestehenden kantonalen Lehrpläne  zu ersetzen und dabei noch Harmonie zu erzeugen – letzteres ungeachtet der nach wie vor bedeutenden kantonalen Unterschiede im Bildungswesen.

Man fragt sich: Fühlen sich die Verantwortlichen einer öffentlichen Diskussion nicht gewachsen? Haben sie kein Vertrauen in die Qualität ihres Produktes? Haben sie Angst vor der Grösse des Projekts? Oder fürchten sie gar das Scheitern des ganzen Unternehmens?

Aber es kann gut sein, dass die neue Politik Erfolg hat, wo selbst die Verbände sich auf diese Form der Erarbeitung des gesellschaftlichen Auftrags an die Schule eingelassen haben. Damit wäre es der EDK gelungen, nach den geleiteten Schulen, den externen Schulevaluationen und den vergleichenden Leistungstests ein weiteres Element des  epochalen Umbaus in der Steuerung unserer Volksschulen vorzunehmen – in Richtung einer von Experten und Administrationen dominierten Schule. Das gemahnt an einen Stil der Steuerung, der in Europa üblich gewordenenist: Politisch legitimierte Institutionen machen Vorgaben ohne Alternativen. Demokratie ohne Volk hat das kürzlich die französische Philosophin  Catherine Colliot-Thélène genannt.

 

Büchse der Pandora von Paul Cesaire Gariot (1811-1880)

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